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Ein stimmungsvoller Samstagabend in Fulda - Fotos: Martin Engel

FULDA Winfridia Konzert in der Alten Aula

Wer wird mir Tröster und Helfer sein? - #StandwithUkraine

01.05.22 - Wenn wir nach zwei Jahren Pandemie eins gelernt haben, dann, dass die Gesellschaft neue Kerntugenden braucht: Krisenresilienz und Flexibilität. Insofern war das heutige Konzert des Städtischen Konzertchors Winfridia das beste Beispiel dafür, wie man mit Widrigkeiten umgeht und sich den Schneid nicht abkaufen lässt.

#StandwithUkraine

Eigentlich hätte man über das ganze Konzert auch Hashtag #StandwithUkraine schreiben können. Denn alle Texte kann man in diesen Zeiten gar nicht anders als auf diesen entsetzlichen Krieg beziehen – mit der Angst der Menschen, die nach Trost und Heilung suchen, in Todesfurcht sind, vor den Feinden flüchten, in Sorge sind und deren Seelen tief betrübt sind. Der aus den Tiefen der Seele kommende Friedenswunsch des letzten Chorals setzte dahinter ein Ausrufezeichen. Eine besonders schöne Idee von Dirigent Carsten Rupp war es, statt einer Zugabe – die ja auch nicht wirklich gepasst hätte – den Schlusschor nochmals gemeinsam mit dem Publikum zu singen. So ging man tief bewegt und gestärkt in den Frühlingsabend.

Die Instrumentalisten

Der Abend war der Chormusik Mendelssohns gewidmet, vier Stücke wurden aufgeführt. Da die Spielstätte die Alte Aula der Universität war, war klar, dass schon aus Platzgründen kein großes Orchester dabei sein würde. Carsten Rupp hatte sich dazu entschieden, sämtliche Stücke kammermusikalisch zu begleiten, mit Klavier, Cello und Klarinette. Das ist keine ungewöhnliche instrumentale Kombination, zahlreiche Trios von Klassik bis Moderne bezeugen, wie populär genau diese Konstellation ist – aus gutem Grund: Die Klangfarben ergänzen sich aufs Allerschönste.

So war es auch heute, Klarinettist Nicolai Pfeffer, Cellist Daniel Esteban Vargas und Pianist Stanislav Rosenberg begleiteten aufmerksam und sicher. Ganz besonders hervorheben möchte ich Nicolai Pfeffer, dessen Klarinettenspiel zum Weinen schön war und der auch in allen Stücken kurze Soli hatte. Sein Ton ist so samtweich und voll, flutet geradezu in den Saal – in mir weckte es sofort die Sehnsucht, von ihm das Klarinettenkonzert aller Klarinettenkonzerte zu hören, KV 622. Von Stanislav Rosenberg, der aus Odessa stammt, und Daniel Esteban Vargas, der aus Bogotá stammt und die beide Meister ihres Fachs sind, hätte ich gern mehr gehört – aber sie drangen gegen den Chor nicht durch. Schade. Die feinziselierte kammermusikalische Begleitung ging so leider etwas unter.

Chor und Sopran

Statt eines Programmheftes führte Carsten Rupp kurz in jedes Stück ein – mir gefiel das sehr gut, viel besser als ein Programmheft, in dem meist ausufernd lange und oft sehr theoretische Erörterungen von Musikwissenschaftlern stehen, die kein Mensch versteht. So ließ Rupp uns daran teilhaben, warum gerade diese Stücke ausgewählt worden waren, wir erfuhren einiges zu deren Entstehung und viel darüber, welch beschwerliche Zeit der Chor hinter sich hat.

Von den ca. 80 aktiven Sängerinnen und Sängern des Chors sangen in diesem Konzert ca. 40. Ich gestehe, ich war ziemlich erschrocken, als der Chor sich aufgestellt hatte. Denn der Gedanke, der einem unweigerlich als erstes kam, war dieser – wo sind die jungen Mitglieder? Das Durchschnittsalter an diesem Abend dürfte bei 50+ gelegen haben. Vielleicht war das aber auch der Tatsache geschuldet, dass bis vor einer Woche noch nicht klar war, wer tatsächlich an diesem Konzert mitwirken würde. Die Monate davor hatte man mit Hybrid-Proben, Indoor und Outdoor-Arbeit und ständig wechselnden Besetzungen arbeiten müssen. Die Auswahl der Stücke hatte Carsten Rupp daher klugerweise unter der Prämisse, "geht in allen Besetzungen" getroffen.

Dass Corona Spuren hinterlassen hat, konnte man auch an anderen Indikatoren ablesen. Im Chor waren die meisten Mitglieder auf ihre Noten, aber nicht auf den Dirigenten fokussiert, nur wenige öffneten den Mund wirklich beim Singen. Es wirkte ein wenig so, als säßen viele mental immer noch vor ihrem Computer. Sehr schade war, dass der Chor durchgängig zu laut sang, jedenfalls für die kammermusikalische Begleitung. Mit Orchester hätte es gewiss funktioniert. Die Folge war, dass die Instrumente allzu oft nicht oder viel zu leise zu hören waren.

Das Sopran-Solo hatte Jana Raine übernommen, in Fulda unter ihrem Mädchennamen Degebrodt womöglich bekannter. Sie hat eine wunderbare, klare Stimme, die auch in den Höhen nie die Wärme verliert. Ihre Artikulation ist makellos, man versteht wirklich jedes Wort. Wenn ich mir von ihr etwas wünschen dürfte, dann, Kirchenmusik mit deutlich weniger Tremolo und Opernhaftigkeit, dafür aber mit mehr Innigkeit und Einfachheit zu singen. Gerade in diesen innigen Hymnen, die durch häufige Wechsel zwischen Solistin und Chor geprägt sind, fällt das so unterschiedliche Singen doch sehr auf.

Das Programm

Den Auftakt des Konzerts machte "Hör‘ mein Bitten", Grundlage dieser Hymne ist Psalm 55. Mendelssohn schrieb das Stück 1844, im Viktorianischen Zeitalter war gerade diese Hymne sehr beliebt. Die Hymne besteht aus vier Teilen, die miteinander verbunden sind. Solo und Chor wechseln häufig, was an das traditionelle englische Vers-Anthem erinnert.

Danach folgte "Lass‘, o Herr, mich Hülfe finden" aus den "Drei Geistlichen Liedern", op. 96. Mendelssohn schrieb dieses Stück 1840 für Dr. Charles Broadley am Trinity College, Cambridge, der ihn um eine Vertonung einer Psalm-Paraphrase gebeten hatte. Der Ausgangstext ist Psalm 13 ("Herr, wie lange willst du mich so ganz vergessen?"). Mendelssohn versucht, den Ton des englischen Anthems zu treffen und schreibt über gerade diese Komposition, er habe sich ihr mit viel Vergnügen gewidmet. 1841 erschienen die englische und die deutsche Fassung.

Von beiden Hymnen gibt es sowohl eine Orchester- als auch eine Orgelfassung – ich persönlich bevorzuge die Orgelfassungen, in meinen Ohren klingen sie Hymnus-gerechter als die mit Orchester.

"Wie der Hirsch schreit nach frischem Wasser" nach Psalm 42 hat eine sehr eigene Entstehungsgeschichte. Mendelssohn schrieb das Stück nämlich auf seiner Hochzeitsreise. 1837 hatte er Cécile Jeanrenaud geheiratet – das Paar reiste durch Schwarzwald und Elsass, und er komponierte. Was sie dazu sagte, ist nicht überliefert. Ein Jahr später fand die Uraufführung im Leipziger Gewandhaus statt. Der immer sehr selbstkritische Mendelssohn hielt dieses Stück für eine seiner besten Kirchenmusikalischen Kompositionen, und Robert Schumann urteilte, das Werk sei "die höchste Stufe, die Mendelssohn als Kirchenkomponist, ja die neuere Kirchenmusik überhaupt, erreicht hat". Und wer wollte da widersprechen? In den Wechseln zwischen Chor und Solo ist von fern Bach zu hören, im Schlusschor ist man näher bei Händel.

Das ergreifende "Verleih uns Frieden gnädiglich" bildete den emotionalen Abschluss des Abends. Grundlage ist das gregorianische Antiphon "Da pacem, Domine, in diebus nostris" in einer Nachdichtung Luthers von 1531. Das Lied ist ein Gebet um den irdischen, politisch-sozialen Frieden "zu unsern Zeiten". Wieder stammt das höchste Lob von Robert Schumann, der 1840 urteilte: "Das kleine Stück verdient eine Weltberühmtheit und wird sie in Zukunft erlangen; Madonnen von Raphael und Murillo können nicht lange verborgen bleiben." Es ist die sechste der acht Chorkantaten, die Mendelssohn schrieb, sie entstand 1831. Eigentlich müsste man sie nach jeder Tagesschau hören, damit die Schreckensnachrichten einen nicht so zu Boden drücken.

Es war ein Konzert, das nach langer Durststrecke Lust auf mehr machte und in dem der Neuanfang nach vielen Herausforderungen spürbar war. Chor wie Publikum waren dankbar, dass solche Abende endlich wieder möglich sind. Dass die Wahl gerade auf Kirchenmusik von Mendelssohn-Bartholdy gefallen war, fand ich tief anrührend und bewegend. Es passt in diese Zeit, in der wir wohl alle still hoffen, dass aus der Gefahr nun endlich und bald auch das Rettende wachse. (Jutta Hamberger) +++

Zum Reinhören

"Hör mein Bitten" – hier entlang, es singt der Knabenchor Cappella vocalis aus Reutlingen: https://www.youtube.com/watch?v=A5R8poriM8g  

"Lass, o Herr" – hier entlang, es singt der Kammerchor Coburg mit der Solistin Gundula Hintz: https://www.youtube.com/watch?v=AmqTg5dEVI8 

"Wie der Hirsch" – hier entlang, es singt der Thomaner Chor Leipzig: https://www.youtube.com/watch?v=sKucFuSjPvc ODER hier von der Streicherakademie Bozen mit dem Collegium Musicum Bruneck: https://www.youtube.com/watch?v=hOJ961_7tpQ 

"Verleih uns Frieden" – hier entlang zu der wunderbaren Version des Thomaner Chors Leipzig anlässlich der Trauerfeier für Kurt Masur: https://www.youtube.com/watch?v=t6zQWebmgmU


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