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Reinhard Kaiser-Mühlecker zu Gast in Fulda - Fotos: Mediennetzwerk Hessen/Ralph Leupolt

FULDA Reinhard Kaiser-Mühlecker: Wilderer

Literatur im Stadtschloss: Am Fenster des Daseins

02.06.23 - Es gibt vermutlich wenig Berufe, über die so viele falsche Vorstellungen verbreitet sind wie über den des Bauern. Andererseits gibt es zahlreiche Romane über das Dorfleben, die meist von Autor/innen geschrieben werden, deren Vorstellung vom Landleben eher aus der "Landlust" als aus dem bäuerlichen Alltag stammt.

Achtung, Warnung: Wer verkitschte Idylle sucht, ist bei Reinhard Kaiser-Mühlecker falsch.

"Ich stelle die Welt dar, die ich kenne"

Reinhard Kaiser-Mühlecker ist erstens Bauer, zweitens bewirtschaftet er den Hof, den seine Familie seit Generationen besitzt, und drittens schreibt er aus der Innenperspektive eines Landwirts heraus. Das Ergebnis ist verstörend, intensiv und lässt einen nicht mehr los. "Wie er aus der hilflosen Stummheit, die seine Protagonisten anfällt, Literatur macht, ist virtuos." (DIE ZEIT, 30.08.16). Dieses Zitat von Christoph Schröder, Mitglied in der Jury des Fuldaer Literaturpreises, stellte Oberbürgermeister Dr. Heiko Wingenfeld in seiner Begrüßung voran. Reinhard Kaiser-Mühlecker sei es ein Anliegen, über die Welt, die er kenne, zu schreiben. In einem Interview hatte Reinhard Kaiser-Mühlecker gesagt, Landwirtschaft sei ein Kraft- und ein Balanceakt: "(Ich begreife) Landwirtschaft als etwas zutiefst Sinnvolles. Ich will mich gut um das Land kümmern und es in gutem Zustand erhalten, trotz der gegenwärtigen Herausforderungen." (Der Standard, 20.11.2022)

Der Oberbürgermeister begrüßte im Fürstensaal mit großer Freude die vielen Stammbesucher/innen der Reihe "Literatur im Stadtschloss" – darunter die Sanitäterinnen der Malteser, Ingeborg Lubczyks Lesekreis, die Sponsoren von Parzeller und der Sparkasse sowie Alt-Oberbürgermeister Dr. Wolfgang Hamberger, der die Reihe 1993 gegründet hatte. "Man kann sich als Autor ja nicht selbst einladen", meinte Reinhard Kaiser-Mühlecker, sichtlich beeindruckt davon, wie lange es "Literatur im Stadtschloss" schon gibt. "Diese Reihe leistet etwas wirklich Wichtiges." Wer wollte ihm da schon widersprechen?

"Du bist Bauer? Wie interessant!"

Die Hauptfigur im "Wilderer" ist der Jungbauer Jakob, der den elterlichen Hof bewirtschaftet. Zunächst wenig erfolgreich. Ihm ist klar, dass er das ein oder andere verändern könnte, aber die Tage sind lang, die Arbeit hört nie auf und lieber trinkt er abends sein Feierabendbier und zieht sich eine Serie rein. Das Dorf, in dem er lebt, befindet sich in einer Gesellschaft und Kulturlandschaft im Umbruch, vielen fällt es schwer, den Anschluss zu halten.

Als die Kunststudentin Katja in Jakobs Leben tritt, ändert sich für den alles – aus einem Tinder-Kontakt wird erst ein Praktikum auf dem Hof, dann eine Liebelei. Katja ist eine Anpackerin – nichts Ungewöhnliches auf dem Land, denn "anders waren die immer noch größer werdenden Betriebe gar nicht mehr zu führen als mit Menschen dieses Schlags, Menschen, die nicht müde wurden und nicht aufgaben." Jakobs anfängliches Misstrauen weicht, und Katja setzt erste Veränderungen um. Die ökologische Umstellung des Hofs wird zur Erfolgsgeschichte. Katja und Jakob heiraten, Sohn Marlon wird geboren. Ende gut, alles gut? Nichts könnte falscher sein. Schnell mehren sich die warnenden Anzeichen, der Abgrund öffnet sich wie in einer Parallelhandlung zur Erfolgsgeschichte des Hofs.

Der wachsende Riss

"Vor langer Zeit, am Ende der Kindheit, mit zwölf oder dreizehn, war etwas über ihn gekommen, das ihn nie mehr verlassen hatte seither, das Gefühl, aus dem Dasein verbannt worden zu sein, aber nicht ins Jenseits oder ins Nichts, sondern wie in ein Abseits, in dem er aber nicht wirklich weiterleben durfte." Jakob hat kein Urvertrauen in sich oder sein Leben, und auch dem Glück mit Katja misstraut er. Als die für drei Monate und ein Stipendium nach Hamburg fährt, ist seine größte Angst, dass nun alles zu Ende ist. Aber Katja kommt zurück.

Dennoch hat sich leise und unmerklich etwas verändert, beim Lesen kann man es rasch verknüpfen mit anderen Szenen, die von Anfang an eine latent bedrohliche Grundstimmung schaffen: die wildernden Hunde, Jakobs urplötzlich auftretende Gewaltphantasien oder Kontrollverluste. Die Brüchigkeit seiner Existenz wird von Seite zu Seite deutlicher. Als Katja von einem Bordellbesuch Jakobs während ihrer Abwesenheit erfährt, verlässt sie ihn. Jakob "(…) wusste aus Erfahrung, dass, was begonnen hatte, nicht aufhören würde, bis es vorbei war, es war wie bei einem Schlitten, der abwärtsfährt oder einem Stein, der einen Berg hinabrollt. Der Riss würde wachsen und wachsen."

Existentialistischer Abgrund

Obwohl Jakob erst Anfang 20 ist, hat er etwas gleichzeitig Altersloses und Uraltes an sich. Er wirkt wie ein Fremder in seinem eigenen Leben. Er fühlt sich nirgends zugehörig. Und gerade die Menschen seiner nächsten Umgebung (Eltern, Geschwister) sind ihm fremd, oft hasst er sie sogar. Es ist nicht recht verständlich, woher die Düsternis in seiner Seele kommt. Das Bild vom herabsausenden Schlitten, dem man sich nicht entgegenstellen kann, prägt die Stimmung des Romans. Ein Abgrund nach dem anderen tut sich auf, und so sehr Jakob auch mit sich ringt, er findet keinen Ausweg. Manchmal fragt man sich beim Lesen allerdings, ob Jakob wirklich einen Ausweg sucht – oder ob er nicht das Leben im Riss bevorzugt.

Reinhard Kaiser-Mühleckers Buch hat etwas Archaisches und Rohes, ich finde es beklemmend gut. Für die Lesung hatte der Autor Passagen ausgesucht, die die Personenkonstellationen und Nicht-Beziehungen im Roman gut verdeutlichten: der wildernde Hund, die ersten Begegnungen mit Katja, eine Begegnung mit dem Bruder. Das Publikum im Fürstensaal bedankte sich bei ihm mit viel Beifall für eine äußerst intensive Lese-Stunde. (Jutta Hamberger) +++


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