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Die Oper hat im Fürstensaal des Stadtschlosses stattgefunden. - Fotos: Erich Gutberlet

FULDA Eine Händel-Oper als Hörspiel 

Georg Friedrich Händel, Floridante oder die heimliche Heldin 

16.05.22 - Eins lässt sich nach diesem musikalischen Nachmittag im Fürstensaal auf jeden Fall sagen: Hätte Händel 1721 das Ensemble Cembaless und Poetry Slammer Florian Wintels gekannt, hätte "Floridante" die Opern seines Haupt-Konkurrenten Bononcini von der Bühne gefegt und Händel hätte die Londoner Saison gerockt.  
 

Klopft man den Staub von der Oper ab, wird schnell klar: "Floridante" ist von ungeheurer Aktualität. Es geht um Liebe, Intrige, Gewalt, Verrat und Courage, und auch um den Glauben daran, dass die Gerechtigkeit am Ende doch siegen wird. Kommt Ihnen das bekannt vor? Ich war wahrscheinlich nicht die Einzige, deren Gedanken an diesem Abend immer wieder Richtung Ukraine wanderten. Auch in dieser Oper wehrt sich aufgeklärte Vernunft gegen Tyrannei und Willkür, und es ist ein setting ‚against all odds‘. Heirate mich oder werde hingerichtet – diese Wahl, vor die Oronte Elmira stellt – dürfte Wolodymyr Selenskyj sehr vertraut vorkommen. Mit anderen Worten: Händel und das Kalush Orchestra haben mehr gemeinsam, als man auf ersten Blick annehmen würde. 
 
Wintels machte aus dem Libretto der Oper ein Hörspiel, mit flotten Texten, frechen Seitenhieben und einigen Mentimeter-Abstimmungen fürs Publikum. Statt der endlosen Rezitative, in die eine Barockoper normalerweise die Handlung packt und die uns Heutige meist arg langweilen, gab Wintels den Erzähler, der die Handlungsfäden entwirrte, beschleunigte und mit Reimen, Witzen und Cliffhangern versah. Das von Rolli geschriebene Libretto weist viel Unglaubwürdiges, divese Merkwürdigkeiten und Handlungslöcher auf und ist, vorsichtig gesagt, wenig bühnentauglich. Wintels griff sich das raus, was funktioniert, strich und redigierte, formte neu – und siehe da, die Geschichte bekommt Profil und Kontur. Das gelingt auch deshalb, weil Wintels konsequent aus der Perspektive der Heldin Elmira erzählt. 
 

Da es in "Floridante" um die ganz großen Fragen geht, bezog Wintels das Publikum mit ein. Denn es ist eins, andere über diese Fragen nachdenken und singen zu lassen, und ein anderes, sich den eigenen Kopf darüber zu zerbrechen, wie man selbst entscheiden würde. Via Mentimeter konnte man bei entscheidenden Momenten abstimmen. Das war für die meisten im Fürstensaal sicher eine ziemlich neue Technik, aber ca. 50 Besucher/innen machten mit.  
 
Auf musikalischer Seite verfuhren Cembaless genauso einfallsreich mit Händels Musik. Einen Chor und ein Orchester hatte man ja nicht dabei, die Musiker verkörperten alles selbst. Das bedeutete natürlich, die Musik zu adaptieren und sie auf andere Instrumente, auf das ganz andere Setting und auf nur eine Stimme zuzuschneiden. 
 

Das geht nur, wenn man gleichzeitig mutig und feinfühlig vorgeht – und wenn man weglässt. In diesem Fall etwa die Nebenfiguren, die zwar in Wintels Erzählung vorkommen, weil auch sie die Handlung beeinflussen, musikalisch bleiben sie aber außen vor. Dafür werden neue Elemente eingeführt, die man eher aus ‚Boston Legal‘ kennt, etwa die Verlesung einer Anklageschrift. Dass dieses "Floridante"-Konzept funktioniert, bewiesen Cembaless bereits im letzten Jahr bei den Göttinger Händel-Festspielen. Cembaless haben das Potenzial, aus Klassikabstinenzlern echte Fans zu machen, gerade, weil sie alte Musik und heutige Musikstile verschmelzen. Und weil sie es schaffen, klassischer Musik einen Entertainment-Faktor zu verleihen.  
 

Lauter großartige Musiker 

Die Mitglieder des Ensembles kommen aus Deutschland, den Niederlanden, Taiwan und dem Iran – und sind in Köln, Münster, Stuttgart, München und Salzburg tätig. Jede und jeder Einzelne von ihnen spielt und singt mit so viel Können und Leidenschaft, dass man ab Minute eins gepackt ist. Immer wieder instrumentiert Cembaless "Floridante" so, dass die eine oder die andere Instrumentengruppe oder einer der beiden Solisten den Lead übernimmt und dabei den jeweiligen ‚Sound‘ so richtig zur Geltung bringt.  
 
Es sind zwei Musikgruppen und zwei Solisten, die Cembaless ausmachen. Zunächst die beiden Flötisten David Hanke und Annabel Opelt, die jeder neben sich einen Flötentisch aufgebaut haben, auf dem sechs bis sieben unterschiedliche Flöten liegen. Alle kommen zum Einsatz. Dabei agieren sie mit vollem Körpereinsatz. Und man spürt und hört, die Blockflöte ist eben kein Instrument, an die man Kinder zwingt und ihnen damit die Musik austreibt, sondern ein ungeheuer vielseitiges Instrument mit vielen klanglichen Schattierungen. Das gilt auch für die anderen von ihnen gespielten Flöten – von Piccolo bis Alt. 
 

Dann kommen die Zupfinstrumente – Shen-Ju Chang spielt die Gambe, die – im Gegensatz zum Cello – zwischen den Beinen gespielt wird und nicht mit Dorn, Robbert Vermeulen spielt Theorbe und Stefan Koim Barockgitarre und Erzlaute. Wie die beiden Flötisten bilden auch diese drei eine großartige musikalische Einheit. Einmal gibt es ein kleines Trio dieser Instrumente, das so zärtlich, so gefühlvoll, so romantisch ist, dass man losheulen könnte. 
 
Zwischen den beiden Gruppen sitzt Syavash Rastani, der traditionelle persische Trommeln spielt. Das hat man im Fürstensaal vorher wohl noch nie vernommen! Wir sahen und hörten die kelchförmige Tonbak, die Vasentrommel Kuzeh und die Daf, eine Rahmentrommel. Normalerweise gehören diese Instrumente zur persischen Musik, die Verbindung mit der Barockmusik Händels ist ganz besonders reizvoll, weil gedachte musikalische Grenzen sofort obsolet werden. Rastani zeigte das gleich in der ‚Ouvertüre‘, in der er – den siegreichen Einzug des Heeres unter Floridante spiegelnd – auf der Daf trommelnd aus der Tiefe des Fürstensaals auf die Bühne kam. 
 

Eine Sopranistin in allen Rollen

 
Die zweite Solistin ist die Sopranistin Elisabeth von Stritzky. Was für eine schöne Stimme! Warm und gefühlvoll auch in der Höhe, sie beherrscht die Koloraturen wunderbar, ihre Intonation ist makellos – und sie schafft es, sich stimmlich (und mimisch!) in die ganz unterschiedlichen Gefühlswelten und Rollen hineinzubegeben, denen sie Stimme verleiht. Das geht von der brennenden Wut auf Oronte, der sich als Mörder ihrer Eltern herausstellt in "Barbaro! t’odio a morte, mà più" bis zum verliebten "Bramo te sola", in dem Floridante seine Elmira anhimmelt. 

Und wenn Sie nun denken, Moment mal, das geht doch nicht, ein Sopran und alle Rollen, dann lautet die Antwort, geht doch. Auf vielen Einspielungen von Barockopern singen heute Frauen die Männerrollen, denn Kastraten gibt’s nicht mehr und nicht immer ist ein Counter die bessere Lösung. Wenn Sie sich das einmal anhören wollen, dann greifen Sie nach Alan Curtis Floridante-Einspielung mit dem Complesso Barocco (alles Sangespartien sind mit Frauen besetzt). 
 

Zwei schöne Effekte gab’s am Ende – den Schlusschor "Quando pena la costanza" sangen alle gemeinsam. Und Wintels wies auf die unbesungenen, kleinen Helden und Heldinnen hin, die, ohne viel Aufhebens um sich selbst zu machen, das Richtige tun. Im Fall dieser Oper ist das Rosanne, die kleine Schwester. 
 
Eine kleine Familienanekdote am Rande: Papa und Großmama Koim (92) waren aus dem nahegelegenen Bruchköbel bei Hanau angereist, um mit großem Stolz den Sohn und Enkel life zu hören. Sommerliche Hitze, Knieschmerzen und Rollstuhl hielten die bezaubernde alte Dame nicht davon ab, sich nach Fulda in den Fürstensaal aufzumachen. Den sie, wie sie mir erzählte, noch aus ihrer Jugend kannte – denn ihre Handelsschulausbildung habe sie einst in Fulda gemacht.
  

Schade, dass viel zu viele der sonst anwesenden Konzertbesucher es der alten Dame nicht gleichgetan haben und so einen der Höhepunkte der diesjährigen Konzertsaison verpassten. Frenetischer Beifall bedankte Cembaless – viel zu schnell waren die 90 Opernminuten vorbeigegangen. (Jutta Hamberger)+++


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